Räume öffnen, Dialoge ermöglichen

Prof. Hartmut Radebold

Hartmut Radebold (* 23. April 1935 in Berlin) ist ein deutscher Psychiater, Psychoanalytiker und Altersforscher. Von 1976 bis 1997 war er ordentlicher Professor für Klinische Psychologie an der Universität Kassel. Er gilt als Begründer und „Nestor der deutschsprachigen Psychotherapie Älterer“

Herr Radebold, fast 65 Jahre nach Ende des Krieges wird über die Auswirkungen und Folge des 2. Weltkrieges auf die, die damals Kinder oder Jugendliche waren, neu oder sogar erstmals intensiv nachgedacht und geforscht. Warum? Weshalb wird bei dem Thema Kindheit im 2.Weltkrieg – wie es scheint – erst seit Kurzem die Sprache wiedergefunden?

Es sind alle daran beteiligt. Die so genannten Kriegskinder, die Jahrgänge 1929 bis etwa 1945, 1947, haben ja einen langen Bearbeitungsprozess durchlaufen und übrig blieb ab 1950 das Wissen um die Fakten, aber nicht mehr um die Gefühle. Sich selbst, ihren Eltern und der Umwelt haben sie angeboten: ‚Es ist alles vorbei, wir haben alles bewältigt und wir funktionieren wieder’. Von daher gab es keine Botschaft über Störungen, Schwierigkeiten und Folgen. Entsprechend war die Öffentlichkeit, waren die Mütter, Ärzte, die Psychologen, die Sozialarbeiter/innen, damals war es ‚die Fürsorgerin’, auch entlastet: ‚es ist vorbei, wir müssen uns nicht mehr darum kümmern’. Die Wissenschaft hat sich dann auch nicht mehr damit beschäftigt, und die ‚Psych-Fächer’ haben sich auf die innerpsychische Welt zurückgezogen, die äußere Realität spielte keine Rolle mehr. Das lässt sich nachweisen für die Psychoanalyse, die Psychosomatik und die Alterswissenschaften.

Meine und die nächsten Jahrgänge haben sich identifiziert mit der deutschen Schuld. Und im Gegensatz zu dem, was unsere Väter gemacht hatten, war das, was wir erlebt hatten, wohl eher gering einzuschätzen. Deswegen durfte auch viele Jahre nicht darüber gesprochen werden. Und schließlich haben die Psychotherapeuten keine Älteren, das waren ja jetzt die Kriegskinder, die in die Jahre gekommen waren, behandelt, und sie haben auch kein Verständnis dafür entwickelt. Ich denke, das alles zusammen hat dazu beigetragen, dass das Thema erst ab 2005 in Deutschland diskutierbar und darstellbar war.

Horst-Eberhard Richter hat rückblickend geäußert, man habe sich in der Wissenschaft nicht berechtigt gefühlt, sich den deutschen Opfern und dem Leid der Kriegskinder zuzuwenden. Welche Versäumnisse sind daraus erwachsen?

Unser Wissen, obwohl es in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen hat, ist immer noch weitgehend ungenügend. Ein Beispiel dafür sind z. B. die Töchter, über die wir außerordentlich wenig wissen – über ihre Entwicklung, ihre Beziehung, wie sie Mütter sein konnten. Erst jetzt artikulieren sie sich deutlich. Dazu begegnen wir lauter Teilgruppen, über die wir außerordentlich, ich betone extra außerordentlich, nichts wissen, z. B. die Kinder, die quer über Europa geschickt worden sind, um sie vor dem Krieg zu bewahren. Aus Finnland z. B. sind eine halbe Million Kinder nach Schweden verbracht worden, und die sind ja dort jahrelang geblieben.

Oder denken Sie an die Kinder, die nach dem Krieg in Heime gesteckt worden sind. Schaut man sich die Jahrgänge an, fragt man sich, ob es einen Zusammenhang gibt zu denen, die delinquent gewordenen sind, auffällig wurden. Ob gerade diese Kriegskinder Schulschwierigkeiten entwickelten, Kinder, mit denen die allein erziehenden Mütter nicht zurecht kamen usw.? Und wir wissen bisher auch zuwenig darüber, was die Erfahrungen der Kriegskinder lebenslang bewirkt haben. Unter welchen Bedingungen konnte sich jemand mäßig ungestört weiterentwickeln, und welche Älteren mit welchen Erfahrungen und sich daraus ergebenden Konflikten leiden heute noch darunter? Eine weitere und zentrale Frage kommt hinzu: Wie wird es diesen Menschen gehen, wenn sie noch älter und dann pflege- oder hilfsbedürftig werden und damit ihre lebenslang verteidigte Selbständigkeit aufgeben müssen?

Sie untersuchen Langzeitfolgen von Kriegskindheiten, die erst im Prozess des Alterns dieser Generation individuell sichtbar werden. Welche sind das und wie wirken sich diese auf die Lebensgeschichten der Betroffenen aus?

Das ist eine schwierige Frage. Bei bestimmten psychischen Störungen sollte man nach der zeitgeschichtlichen Erfahrung der Betroffenen fragen. Dazu gehören die leichteren bis mittleren depressiven Störungen, die es in Deutschland und von Krieg betroffenen Ländern in einer besonders hohen und auffallenden Rate gibt. Dazu gehören Störungen mit einer Angstsymptomatik – dahinter könnte eine so genannte chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung stecken. Das ist der eine Bereich. Ein weiterer sind die Beziehungs- und Bindungsstörungen, die es den Leuten schwergemacht hat, überhaupt Bindungen einzugehen, sie auch entsprechend zu gestalten. Denken Sie an die symbiotischen Beziehungen der allein erziehenden Mütter zu ihren einzigen Kindern und was für Konflikte sich daraus ergeben. Und diese Mütter sind jetzt erst gestorben. Das heißt also, plötzlich sind viele Menschen Vollwaisen und wissen gar nicht, was das heißt, wie sie damit umgehen sollen. Sie sind orientierungslos.

Schließlich gibt es die so genannten ich–syntone Verhaltensweisen der Kriegskinder, die wir alle kennen: sparsam und fleißig sein, funktionieren, planen, organisieren, altruistisch sein, also sich um andere kümmern und nicht um sich …

Und ein zentraler Punkt ist: Wir Kriegskinder, ich gehöre ja auch dazu, haben nicht gelernt, auf den Körper Rücksicht zu nehmen. Das geht zurück auf die Ideologie des Nationalsozialismus. Denken Sie an den Satz von Hitler: „So sollen die Jungen sein: Flink wie die Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl.“ Aber es gibt überall den Spruch, der sich daraus ableitet: ‚Was uns nicht umbringt macht uns hart!’ Diese Haltung mag unter den damaligen Umständen notwendig gewesen sein: Unterernährung, Krankheiten, kaum medizinische Behandlung usw. Aber jetzt müssten wir uns intensiv um unseren Körper, unsere Gesundheit und um die Behandlung von Krankheiten kümmern. Das wird sträflichst von diesen Altersjahrgängen vernachlässigt, viel mehr von den Männern als von den Frauen.

Sie untersuchen die Weitergabe von Erfahrungen der Kriegskinder auf die Nachkommen, also auch die transgenerationale Weitergabe von Traumata. Wie können wir uns diese Weitergabe vorstellen?

Sie meinen jetzt den Mechanismus oder den Inhalt?

Den Mechanismus.

Darüber gibt es Forschungen aus Israel, die besagen, dass die Generationen sich nicht voneinander abgrenzen können, sondern sich sozusagen ineinander schieben. Die Kinder sind in solch großem Umgang in die Geschichte ihrer Eltern eingebunden, dass sich die nächste Generation nicht klar davon abgrenzen kann. Und das, obwohl die Geschichten zwar teilweise verschwiegen wurden, aber dennoch überall abzulesen waren, z. B. dass bestimmte Themen vermieden werden. Eine Abgrenzung in dem Sinne, dass formuliert wurde, „das sind wir jetzt mit unseren Interessen, Ideen, Vorstellungen und Wünschen und das sind unsere Eltern“, hat nicht stattgefunden. Es verschiebt sich also ineinander, und dadurch haben die Kinder sehr viel von ihren Eltern übernommen. Dies begann schon mit dem 1. Weltkrieg. Der 1. Weltkrieg hinterließ 1,8 Mio. Kriegstote und 2,5 Mio. Kriegsbeschädigte. Das sind die Eltern der Kriegskinder. Die Kriegskinder geben ihre Erfahrungen an ihre Kinder weiter. Aber was die Kinder der Kriegskinder an ihre Kinder weitergeben, wissen wir nicht.

Wann und wie hört das auf? In der Bibel steht, Gott bestrafe die Menschen bis ins dritte oder vierte Glied.

Ich habe immer gehofft, dass das nicht stimmt, aber ich habe jetzt den Eindruck, leider, leider, stimmt es.

Wie sind Prozesse intergenerationaler Übertragung von Kriegserfahrungen auf die eigenen Kinder und Enkel zu – wie soll ich sagen – zu unterbrechen?

Ein zentraler Befund ist wohl, dass etwa in 80% aller Familien über die Kindheitsgeschichte der Eltern geschwiegen worden ist. Das heißt, die Kinder haben etwas wahrgenommen, wussten aber nicht, was es bedeutet. In etwa 20% ist darüber geredet worden. Teilweise sind die Kinder damit überschüttet worden, so dass sie es nicht mehr hören wollten. Und wenn überhaupt erzählt worden ist, dann eher von ‚Abenteuergeschichten’ aus dem Krieg.

Und jetzt stellen sich folgende Aufgaben an uns als alt gewordene Eltern: Erstens müssen wir begreifen, dass wir etwas weitergegeben haben, was wir nicht wollten, was aber passiert ist. Zweitens müssen wir unseren erwachsenen Kindern ein Angebot machen, etwa: „Ich habe euch nichts erzählt darüber, jetzt würde ich euch gerne, wenn es euch interessiert, darüber etwas erzählen“. Drittens müssen wir unsere Kinder fragen: „Was hat das mit Euch gemacht? Wie hat es Euch belastet? Wie habt Ihr darauf reagiert? Wie hat es Euer Leben geprägt?“ Und wir müssen uns viertens auch die Vorwürfe unserer Kinder, die ja daraus resultieren können, anhören und akzeptieren.

Die Kinder müssen sich ihrerseits klarwerden, insbesondere bei schwer gestörten intergenerationalen Beziehungen, vielleicht auch mit Hilfe einer Psychotherapie oder einer Familientherapie, was das mit ihnen gemacht hat. Und ich glaube, dann ist diese Kette, wie Sie es nennen, unterbrechbar. Aber nur dann. Wenn sie unbewusst weiterläuft ist sie wirklich eine aus sehr gutem Stahl geschmiedete Kette

Was kann die ‚Gesellschaft’ tun i.S. einer neuen Aufmerksamkeit auf dieses Thema? Und welche Anforderungen erwachsen für professionell Tätige, etwa Ärztinnen und Ärzte, Pflegende, Berater/innen und Pastor(inn)en?

Die Berufsgruppen, die im psychosozialen Bereich und im Altersbereich tätig sind, brauchen Vermittlung zeitgeschichtlichen Wissens. Sie sollten wissen, was in der Zeit der Kriegskindheiten passiert ist, um Begriffe und Erwähnungen richtig zuordnen zu können. Sie müssen für ihre berufliche Praxis darüber informiert werden, was es für Störungen geben kann. Nehmen Sie z. B. die Alten- und Pflegeheime. Dort erleben Sie immer wieder folgende Situation: Eine alte Frau liegt dort in ihrem Zimmer, wird nachts von zwei jungen Männern gepflegt – Intimpflege, nasse Schlüpfer usw. Die Frau beißt und schreit und tritt um sich und erlebt wieder eine Vergewaltigung. Es reicht schon aus, wenn jemand mit Stakkatoschritten über den Flur geht oder ausländisch redet. Und das ist nur ein krasses Beispiel.

Wir kennen auch Betroffene, die sich nach einer Operation oder in der Rehabilitation plötzlich aufgeben, obwohl es dafür keinen körperlichen Befund gibt. Sie resignieren aufgrund ihrer Geschichte. Professionell Handelnde brauchen zeitgeschichtliches Wissen, und sie sollten wissen, wie sich solche Störungen in ihrem Berufsfeld auswirken können. Sie sollten reflektieren, was sie individuell selbst tun können und was die Institution initiieren kann, z. B. dass Frauen nachts nur von Frauen gepflegt werden.

Im ärztlichen oder beratenden Gespräch sind zwei Fragen bzw. Feststellungen entscheidend: ‚Ich sehe, Sie gehören zum Jahrgang sowieso …’ (damit ist verortet, dass dieser Mensch zur Kriegskindergeneration gehört) ‚und bekanntlich hat Ihr Jahrgang viel erlebt’. Ist die Frage oder Aussage neutral formuliert, dann erzählen die Menschen zumindestens die Fakten. Und dann kann man sich selbst vorstellen, was passiert ist.

Unsere Gesellschaft, das will ich sehr nachdrücklich sagen, muss sich der Größenordnung der Folgen bewusst werden und muss entsprechend mehr Ressourcen zur Verfügung stellen. Unsere Forschung ist weitgehend dadurch eingeschränkt, das es kein Geld gibt.

Herr Radebold, ein Blick in die Zukunft. Wann, glauben Sie, wird der Zweite Weltkrieg in den Psychen der Menschen zu Ende sein?

In einem Buch, das ich gelesen habe, stand: ‚Der Krieg ist zu Ende, wenn das letzte am Ende des Krieges gezeugte Kind gestorben ist.’