Räume öffnen, Dialoge ermöglichen

Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun

Die Psychologie der zwischenmenschlichen Kommunikation ist eng mit dem Namen Schulz von Thun verbunden. Sein Kommunikationsmodell mit den vier Schnäbeln und vier Ohren gehört mittlerweile zum Standard. Von 1976 bis 2009 war Friedemann Schulz von Thun Professor für Psychologie an der Universität Hamburg. Jörg Matzen traf ihn in seinem Institut für Kommunikation in Hamburg.

»Wer sich selbst versteht, kommuniziert besser«

Herr Schulz von Thun, Sie gehören zu den bekanntesten Kommunikationspsychologen. Ihre Trilogie ›Miteinander reden‹ hat eine Millionenauflage. Seminarteilnehmende und Studierende, mit denen wir arbeiten, kennen Ihre Arbeit mittlerweile aus der Schule …

Meine Tochter auch gerade …

Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Weshalb haben wir Sie und Ihre Arbeit so nötig?

Ich selbst hatte sie damals nötig. Ich war ein Spätentwickler auf der Beziehungsebene und seltsam unbeholfen darin, menschliche Kontakte zu gestalten, über Beziehungen zu sprechen. Ich konnte auch nicht sagen, wie mir ums Herz war. Mir fehlte eine Sprache für die ›grüne Seite‹ der Selbstkundgabe. Dann habe ich irgendwann gemerkt: andere scheinen das aber auch nötig zu haben – Führungs­kräfte, Lehrer, Ärzte, ich bin also nicht der einzige Spätentwickler auf der Welt. Und hinzukommt, dass der Mensch ja nicht nur lernen will, was er unbedingt nötig hat und wo er an Defiziten leidet, sondern er will auch was aus sich machen. Er will wachsen. Die Kommunikationspsychologie enthält ein Wachstumsangebot, nicht nur ein Heilungsangebot für ›defizitäre Menschen‹, so wie ich vielleicht einer war. Sondern auch ein Wachstumsangebot für Menschen, die ansonsten gut im Leben stehen. Und vielleicht liegt darin auch die Faszination.

Ihnen haben wir das Kommunikationsquadrat zu verdanken. Was verdanken Sie Ihrer Erfindung?

Ich war mir damals, als das Quadrat eher beiläufig in einem Seminar am Flipchart entstand, der Tragweite nicht bewusst. Die Erkenntnis, dass mit diesen vier Aspekten etwas sehr Wesentliches für das zwischenmenschliche Miteinander auf den Punkt gebracht worden war, kam erst später. Übrigens auch die vier ›Schnäbel‹ und die vier ›Ohren‹ kamen später. Zu Anfang war dieses Quadrat zwischen Sender und Empfänger ein rein akademisches Gebilde. Ich verdanke diesem Quadrat einmal für mich persönlich und dann für mich als Profi und Wissenschaftler etwas. Für mich persönlich, dass mir das Quadrat besonders auf der Selbstkundgabe- und auf der Beziehungsseite, wo ich schwach auf der Brust war, geholfen hat, diese Seiten als wichtig und würdig zu erkennen und zu begreifen und allmählich auch ein Heimspiel für diese beiden Seiten zu entwickeln. Auf der Sachebene hatte ich von Anfang an ein Heimspiel. Aber auch für die anderen Seiten ein Heimspiel zu entwickeln, das hat meiner Menschwerdung und meiner Beziehungsfähigkeit gut getan.
Als Wissenschaftler verdanke ich dem Kommunikationsquadrat, dass ich dem ganzen Thema meinen Prägestempel aufdrücken konnte und nun noch bei Lebzeiten erleben darf, wie es im Schul­unterricht und in der beruflichen Weiterbildung zum Standard geworden ist. In Deutschland gehören die ›vier Ohren‹ ja fast zur Allgemeinbildung.

Sie schreiben in Ihrer Vita, der 3. Band der Trilogie – das Innere Team – sei »des Autors Lieblingswerk.« Das müssen Sie erläutern!

Ja, das trifft zu! Es ist ein Kind der neunziger Jahre, da hatte ich schon ein bisschen mehr Reifezeit. Band I hingegen war ein Jugendwerk und eine Erntefrucht der siebziger Jahre, da war ich selber noch sehr auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Inzwischen war mir eindrücklich geworden, dass Kommunikation auch und nicht zuletzt eine Ausein­andersetzung mit dem inneren Menschen erfordert. Band III greift ja genau dies mit dem ›Inneren Team‹ auf. (Friedemann Schulz von Thun greift einen Stift und visualisiert am Flipchart, J.M.) Es ist wohl kein Zufall, dass das ›K‹ für Kommunikation diese beiden Strahlen hat. Der eine Strahl weist auf das, was mich ausmacht, und der andere weist auf das, wie ich mich gebe. Das sind die beiden Fragen für den Sender: ›Was macht mich aus?‹ und ›Wie gebe ich mich?‹ Und wenn ich weiß, was mich ausmacht, wenn ich meine innere Wahrheit klar habe, dann ist eigentlich Kommunikation fast ein Kinderspiel. Jedenfalls hat Goethe gesagt: »Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor.« Zuweilen ist das so. Manchmal stimmt es aber auch nicht. Es braucht dann auch noch die Kunst, die innere Wahrheit so zu gestalten und auf den Weg zu schicken, dass sie vom Empfänger gut verstanden und verkraftet werden kann, und dass er meine Äußerung als passend zur Situation, zum Thema und zu unserer Beziehung empfinden kann. Kommunikation soll ja nicht nur authentisch, sondern auch stimmig sein. Aber wenn ich erst einmal klar habe, was mich ausmacht, also in der Selbstklärung vorangekommen bin, dann wird alles leichter – und das greift dieser dritte Band mit seiner These auf: »Wer sich selbst versteht, kommuniziert besser!« Da wir aber mit uns selbst nicht ein Herz und eine Seele sind, sondern ganz im Gegenteil eine ›innere Pluralität‹ von zuweilen verblüffender Dramatik zu bewältigen haben, ist diese Selbstempathie eine anspruchsvolle Aufgabe, sowohl menschlich als auch professionell. Ja, der Band III hat es in sich, weil der Mensch es ›in sich‹ hat!

Geht es auch um das Selbstwertgefühl als Voraussetzung für Selbstwirksamkeit?

Ganz genau, dass ich lerne, mich zu akzeptieren in dem, was mich ausmacht, dass ich dazu stehen kann. Und zwar nicht nur zu der vorzeigbaren Sonnenseite, sondern auch zu dem, was im Schatten ist. Da berührt sich das Thema Kommunikation sehr eng mit dem Thema Menschsein überhaupt.

Sie waren Anfang der 1970er Jahre Diplomand und Doktorand bei Reinhard Tausch. In der Reformbewegung dieser Zeit hat man sich die überfällige Demokratisierung der pädagogischen Institutionen auf die Fahnen geschrieben. Es ging u. a. darum, Eltern, Lehrkräfte und Erzieher/innen in partnerschaftlichem Verhalten zu schulen. Gemeinsam mit Inghard Langer und Bernd Fittkau sind Sie durch die Republik gepilgert, um einen demokratischen Unterrichtsstil und wohlwollende Beziehungen in Klassenzimmern zu fördern. Inghard Langer hat einmal gesagt, sie hätten sich damals gefühlt wie die drei Musketiere, die auszogen, die Welt zu verändern. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus? Was konnten Sie bewegen?

Unser Ansatz damals war gut gemeint, aber noch ein wenig naiv. ›Lernziel Partnerschaftlichkeit‹, das war die große Überschrift. Den anderen Aspekt, nämlich Autorität und Führung, haben wir vernachlässigt bzw. verteufelt. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, Partnerschaftlichkeit und Autorität müssen zusammenkommen. Das eine ohne das andere ist Murks. Aber gut, damals musste die Entwicklungsrichtung hin zu Partnerschaftlichkeit wohl besonders betont werden, und wir gingen davon aus, dass hier der größte Lern- und Nachholbedarf lag. Ferner hatten wir damals noch sehr stark den Ansatz, gute Formulierungen einzuüben, also eine ansprechende Verpackung von Kommunikation zu lernen und einzustudieren, und das wirkte dann meist auch einstudiert. Dass es um die Wahrheit des inneren Menschen geht und, da wir alle auf einem Schachbrett stehen, um die system- und situationsgerechte Art zu kommunizieren, das hatten wir damals noch nicht so im Blick. Insofern haben wir naiv, aber dafür umso missionarischer angefangen.
Der Haupterfolg war wohl der, dass das Thema Kommunikation und die Frage, wie wir miteinander umgehen, überhaupt zu einem Thema wurde. Hier entstand besonders bei Berufsgruppen, die es folgenreich mit Menschen zu tun haben, eine enorme Aufgeschlossenheit für das Thema, und nach und nach auch eine Bereitschaft, sich auf die neuen Lernformen einzulassen: nicht nur emsig mitzuschreiben und die Weisheit schwarz auf weiß nach Hause zu tragen, sondern sich auch einzubringen, sich zu exponieren, Feedback zu empfangen, sich auf einen gruppendynamischen Prozess einzulassen. Diese Formen interaktiver Erwachsenenbildung – TZI kam hinzu – waren ja auch neu. Das beides zusammengenommen ergab so eine gewisse Aufbruchstimmung.

Heute geht eine gewisse Aufbruchstimmung von der Neurobiologie aus. Hirnforscher behaupten, neue Erkenntnisse über die Voraussetzungen und Möglichkeiten des Lernens liefern zu können. In Kultusministerien gehen sie ein und aus. Wie schätzen Sie den Einfluss der Neurobiologie auf die Psychologie ein?

Ich habe da zwei Seelen in meiner Brust. Zum einen bin ich natürlich auch fasziniert über das, was möglich ist, unser Gehirn zu erforschen und seine Geheimnisse zu ergründen. Da kommen wir uns als Menschheit noch einmal auf eine ganz andere Art auf die Spur. Meine andere Seele findet allerdings, dass die Erkenntnisse von Neuro… überschätzt werden, vor allem von den übereifrigen ›Anwendern‹. Was gibt es jetzt nicht alles: Neuropädagogik, Neuroselling und Neuroleadership… Dass viele Leute freudig aufmerken, wenn sie ein Schnäppchen-Angebot entdecken, wussten wir schon. Jetzt erfahren wir: »Mithilfe der funktionalen Magnetresonanztomographie konnte bewiesen werden, dass der Anblick von Schnäppchensignalen im Hirn der Käufer eine Region aktiviert, die als Belohnungssystem bekannt ist. Das im Nucleus accumbens verortete Areal reagiert mit der Ausschüttung von Dopamin, das als Glückshormon bezeichnet wird.« Das mag stimmen und ist nicht uninteressant. Aber dass die Erkenntnis der neurologischen Seite unseres Seelen- und Geisteslebens unsere Auffassungen über Erziehung, Unterricht und Menschenführung entscheidend befruchten kann, bezweifele ich. Zumindest ist das noch zu früh. Aber Sie haben Recht: Neurobiologie ist auf dem Vormarsch. Sofern und solange sie bei ihren Leisten bleibt, kann Gutes dabei herauskommen. Bei manchen neuen Errungenschaften des sog. Neuromarketings, wo versucht wird, die Dopaminausschüttung zielgruppengerecht zu optimieren, hat man allerdings nicht nur gute Gefühle – um es einmal sehr milde zu sagen.

Sie haben Kommunikationstrainings in großen Unternehmen durchgeführt. Welche Erfahrungen haben Sie in hierarchisch strukturierten Arbeitsumgebungen gemacht? Wie haben die Führungs­ebenen reagiert?

Mit großer Aufgeschlossenheit und mit großer Abwehrskepsis gegenüber Psychoentblößungen …

»Was macht das mit Dir?«

Ja, da haben die Führungskräfte gesagt: »Ach, müssen wir uns erst auf die Couch legen, bevor wir auf die Menschheit losgelassen werden dürfen?« Da gab es eine Zeit, wo wir gesagt haben: »Ja, allerdings!« Damals haben wir die Selbsterfahrung und die Therapie des ›Inneren Menschen‹ im professionellen Kontext überbetont und überschätzt. Hingegen haben wir die Rolle und die systemisch-institutionellen Gegebenheiten unterschätzt.
In meinem Leitbegriff der Stimmigkeit als Ideal vom menschlichen Verhalten wird das korrigiert. Stimmig heißt: Sei du selbst, wesensgemäß, aber auch rollen-, system- und kontextgerecht! Und das beides in den Blick zu nehmen, gleichzeitig, darin sehe ich heute den Schlüssel. Helm Stierlin hat gesagt, und diese Formulierung übernehme ich gern: »Der Mensch im System und das System im Menschen.« Beides gleichzeitig zu sehen, das ist die große Kunst, sowohl im Coaching als auch im realen Leben.

Die systemisch-institutionellen Gegebenheiten unterschätzt? Was meinen Sie damit?

Dass es in einem Gespräch zwischen zwei Menschen nicht nur darauf ankommt, was mir auf der Seele liegt und was meine innere Wahrheit ist, sondern dass es auch darauf ankommt, »die Wahrheit der Situation« (ein wichtiger Begriff in meiner Stimmigkeitslehre!) zu erfassen und dagegen nicht zu verstoßen. Ein Arzt z.B. wird und sollte anders zuhören, je nachdem, ob er einen Patienten, einen Pharmareferenten oder abends seine Frau vor sich hat – die Wahrheit der Situation ist jeweils eine sehr andere. Es geht also darum, das Schachbrett, auf dem wir uns begegnen, und die eigene Rolle darin (bin ich hier Bauer oder König, Ehemann oder Kunde?) genau zu erfassen. Denn Kommunikation gelingt, wenn sie in Übereinstimmung mit der Wahrheit der Situation kommt. Manche ›Ich-Botschaft‹, manches ›aktive Zuhören‹, manches ›Feedback‹ mag wunderbar, sehr authentisch und gut gemeint sein – nur hier und jetzt in dieser Situation und gegenüber diesem Menschen kann es ›daneben‹ und verquer sein: »So mancher, mit sich selbst im Reinen, mag manchmal doch verfehlt erscheinen!«

Lassen Sie uns auf den alten, aber immer aktuellen Zusammenhang von individuumsbezogener und gesellschaftsbezogener Betrachtungsweise auf den Menschen zu sprechen kommen: Sie haben geschrieben, dass gelingende Kommunikation und individuelle Persönlichkeitsgestaltung die Auseinandersetzung mit zwei großen Hindernissen enthält: Die Auseinandersetzung mit den (gesellschaftlichen) Verhältnissen um mich herum und mit den (gesellschaftlichen) Verhältnissen in mir selbst. Wie ist das zu verstehen? Und vor allem: Wie kann ich mir das praktisch vorstellen – in Trainings, in Seminaren?

Ja, da machen Sie nun ein großes Fass auf. Das Zitat ist ja von 1981, da hatten wir die 70er Jahre gerade hinter uns. An der Universität wimmelte es von linken Studierenden, und das war eigentlich damals eine Verteidigungsformulierung gegenüber dem vorweggenommenen Vorwurf, das sei doch alles individueller Scheiß, die gesellschaftlichen Formationen seien es doch, die den Menschen deformieren, und wenn man diese Zustände nicht sieht und verändert, dann kann man doch nicht am Symptom etwas kurieren, und das Individuum ist doch nur das Symptom… so ungefähr. Und dem wollte ich entgegenhalten: ja die gesellschaftlichen Verhältnisse sind (auch) prägend, zweifellos, aber dennoch und gerade deswegen lohnt es sich auch, dass der Mensch sich mit sich selber befasst, bei sich selbst anfängt, ohne dort zu enden. Emanzipation ist nicht nur eine Befreiung von äußeren, sondern auch von inneren Fesseln. An dieser Stelle betritt der Psychologe legitimer Weise die Spielfläche, das musste damals noch betont werden.

Und wie würde sich das Thema heute stellen? Sie haben geschrieben: »Schritte auf individueller und gesellschaftlicher Ebene müssen einhergehen. Das eine ist nicht aussichtsreich ohne das andere.« Heute habe ich den Eindruck, dass einerseits gesellschaftliche Konflikte in die Innenwelt der Menschen verlagert werden; andererseits sei es am Menschen selbst, diese Konflikte zu bewältigen – und zwar als die eigenen. Die Individualisierung hat m. E. schon ziemlich massiv durchgeschlagen …

… verbunden mit der Ideologie, der Mensch sei seines Glückes Schmied. Der moderne Glücksschmied begreift sich nicht als jemand, der auf dem Amboss der gesellschaftlichen Formationen und des Schicksals zurechtgehauen wird, sondern als jemand, an dem es selbst liegt, was er aus sich macht. Das ist ja auch wunderbar, jedenfalls zu 50%! Diese Haltung kann geradezu als Erntefrucht der Humanistischen Psychologie gelten: Übernimm die Verantwortung für dich selbst, schieb es nicht auf die böse Gesellschaft, auf die lieblosen Eltern, die suboptimalen Gene – sondern, mit Sartre gesprochen: »Jeder kann jederzeit aus dem etwas machen, was man aus ihm gemacht hat!« Wunderbar! Wir erkennen uns als Urheber unserer selbst und unseres Lebens. Und es lohnt sich, diese halbe Wahrheit ernst zu nehmen und vom Opfer zum Täter, zum Entwicklungshelfer unserer selbst zu werden.

Und die andere Hälfte der Wahrheit?

Genau: Wer diese halbe Wahrheit zur ganzen erklärt, läuft in eine Falle. Der moderne Glücksschmied blendet aus, dass er auch ein Geschöpf mit zugeteiltem Schicksal und mit zugeteilten Begrenzungen ist. Nun gerät er enorm …

unter Druck …

ja, unter ständigen Erfolgsdruck. Ob er Pech hat, oder ihm übel mit­gespielt wird, oder ob er krank wird: er muss sich alles selbst zurechnen und als klägliches Scheitern anlasten. Insofern ist der moderne Glücksschmied auch bedauernswert. Manchmal hat er vielleicht einen bösen Traum, dass er wie ein heißes Eisen auf dem Amboss weichgeklopft wird, aber dann wacht er auf und trinkt das halbvolle Glas.

Dem modernen Glücksschmied stehen jede Menge Optimierungsmöglichkeiten zur Verfügung.

Er lebt in einer Welt von Chancen, Optionen, Potentialen, Ressourcen; er kennt keine Probleme, sondern nur Herausforderungen. Der ganze Mensch ist eine einzige Exzellenzinitiative.

Stressbewältigung, positives Denken, effizientes Ziel-, Zeit- und Selbstmanagement. Der Markt ist voll davon: Selbstmanagement mit Erfolgsversprechen. Was halten Sie von dem auf das eigene Selbst bezogenen ›Markt der Möglichkeiten‹?

Erstmal halte ich davon sehr viel, weil es natürlich auch zu meinem Geschäft gehört, dass die Leute mehr aus sich machen wollen: Wer kommunikativ weiter entwickelt ist, hat bessere Lebenschancen, privat und beruflich, als jemand, der hier unbeholfen bleibt. Es beflügelt mein Geschäft, ich sollte darüber nicht grimmig sein.
Zweitens habe ich es selbst als überaus befreiend und beglückend erlebt, dass man abgestammte Behinderungen überwinden und zugleich seinem Wesen treuer werden kann. Und drittens bin ich kopfschüttelnd darüber, wie der Gedanke der Selbstoptimierung derart übertrieben ins Kraut geschossen ist und sich in den Dienst der Omnipotenz und des Erfolgsstrebens hat stellen lassen, dass man Angst bekommen muss, dass der Segen sich in einen Fluch verwandelt.

Wie kann ich als potenzieller Teilnehmer die Spreu vom Weizen trennen? Man muss ja nur bei Google ›Erfolg durch …‹ eingeben und erhält fast 16 Millionen Einträge.

Da sich heute Zweifel breit gemacht hat, ob wir einmal in den Himmel kommen, haben wir den Erfolg zum Ersatzhimmel erkoren. Also ich sehe den Weizen dort, wo nicht nur der erfolgsorientierte Exzellenzprofi angesprochen wird, sondern der ganze Mensch in seiner Entwicklungsfähigkeit. All das, was meinen erfolgreichen Marktauftritt vielleicht gefährdet, gehört aber doch auch zu mir, z.B. die Müdigkeit, die Enttäuschung, die Erschöpfung, der Selbstzweifel, die Melancholie. Das alles ist mir zugehörig, aber nicht schändlich, sondern menschlich zugehörig. Im Inneren Team sagen wir: Nicht nur die erfolgreiche Vordermannschaft verdient Beachtung und Pflege, sondern auch die Hintermannschaft gehört dazu. Da ging ja ein Ruck durch die deutsche Gesellschaft, als Robert Enke (Torwart bei Hannover 96, J.M.) sich das Leben genommen hat. Das hatte ja einen Nerv getroffen. Da war ein so erfolgreicher, sozialverträglicher, erfreulicher Mensch in seiner nach außen gewandten Seite. Und hinter diesen Lichtgestalten waren im dunklen Teil der Seele die verbannten Anteile, die nicht sein durften, nicht erfolgskompatibel waren.

Also weniger auf die verkürzte Instrumentalisierung von Weiterbildung zum Zwecke von Exzellenz und Qualifikation setzen, sondern den ganzen Menschen in seiner Fähigkeit zur Selbstbildsamkeit, seinen Widersprüchen, seinem Wachstumspotenzial anerkennen.

Und seinem Schatten: »Ohne deine Außenseiter kommst du ganz bestimmt nicht weiter!« Und Abstriche machen von einem Wachstums­ehrgeiz, der ins Kraut schießt und uns über den Kopf wächst, die Grenzen des Wachstums sozusagen auch für den einzelnen Menschen erkennen und bejahen, ohne vor sich selbst als Schlappschwanz dazustehen. Dann kann wieder etwas Ruhe in die Seele einkehren: Ach ja, ich muss nicht dauernd ›entflammt‹ und leidenschaftlich leistungsbegierig sein, nicht permanent souverän, tatkräftig und entscheidungsfreudig. Ich darf auch mal hinfällig sein, ich darf auch mal brach liegen, ich darf auch mal ratlos und nachdenklich sein und zuweilen nicht ein noch aus wissen. Das alles bricht mir kein Zacken aus der Krone, sondern das setzt die wahre Krone der höheren Souveränität erst richtig auf. Überhaupt lebt es sich leichter ohne Krone…

Interview: Jörg Matzen